Die in Kundus stationierte 3. Task Force (ISAF) der Bundeswehr beginnt im Oktober 2011 die mehrtägige Operation „Orpheus”. Durch Patrouillen in und um die Kleinstadt Nawabad (Distrikt Chahar Dareh) westlich von Kundus, Nordafghanistan, versuchen die rund 100 Infanteristen Rückzugsorte Aufständischer unmöglich zu machen. Unterstützt werden sie dabei durch einen Zug afghanischer Soldaten. Foto picture alliance / JOKER

Die in Kundus stationierte 3. Task Force (ISAF) der Bundeswehr beginnt im Oktober 2011 die mehrtägige Operation „Orpheus”. Durch Patrouillen in und um die Kleinstadt Nawabad (Distrikt Chahar Dareh) westlich von Kundus, Nordafghanistan, versuchen die rund 100 Infanteristen Rückzugsorte Aufständischer unmöglich zu machen. Unterstützt werden sie dabei durch einen Zug afghanischer Soldaten. Foto picture alliance / JOKER

13.12.2020
Prof. Sönke Neitzel

„Bundeswehr hat Krieg nicht nur gespielt, sie hat ihn in Afghanistan auch geführt“

Am Hindukusch musste die Truppe lernen, mit Tod und Verwundung umzugehen. Die Aufarbeitung dieses Einsatzes zeigt Lücken und in Mali scheinen sich Fehler zu wiederholen.

Die Bundeswehr ist am Hindukusch erwachsen geworden. Erstmals in ihrer Geschichte war sie damit konfrontiert, den Krieg nicht nur zu spielen, sondern auch zu führen. Das stellte die Organisation vor enorme Herausforderungen. 2001 hatte man noch geglaubt, die quälenden Diskussionen über das Wesen des Soldaten und die Vergangenheit, die nicht vergehen wollte, hinter sich gelassen zu haben. Mit den SFOR-, KFOR- und ISAF-Missionen schienen die Streitkräfte eine Aufgabe gefunden zu haben, die außenpolitisch nützlich und zugleich gesellschaftlich vermittelbar war. Doch dann lief Afghanistan aus dem Ruder, und man musste lernen, mit Tod und Verwundung umzugehen, auch die psychischen Langzeitfolgen zu bewältigen. Etwa fünf bis zehn Prozent der Soldaten erlitten im Einsatz eine posttraumatische Belastungsstörung. Doch die allermeisten Frauen und Männer waren resilient genug, um die Strapazen durchzustehen. Die Truppe zeigte sich dem Einsatz in mehrfacher Hinsicht gewachsen. Sie bewies, dass sie zu kämpfen verstand und die Taliban zwischen 2009 und 2011 in den wichtigsten Regionen Nordafghanistans zurückzudrängen vermochte. Das Kriegerhandwerk hatte in den tribal cultures überdauert. Aber es ging nicht nur darum. Die Bundeswehr bewies durchaus Verständnis für die politische Dimension der ISAF-Mission und dachte keineswegs nur in militär-taktischen Kategorien. PRT-Kommandeure, interkulturelle Einsatzberater, Verbindungsoffiziere und die Teams für das Mentoring der afghanischen Armee oder für die zivil-militärische Zusammenarbeit waren viel im Land unterwegs, versuchten sich, so gut es ging, mit den Leuten von der Entwicklungszusammenarbeit, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium zu koordinieren. Ohne die Soldaten wären die erheblichen Fortschritte beim Aufbau von Infrastruktur, Bildung und Wirtschaft nicht möglich gewesen.

Die Bundeswehr hatte bei ihrem Einsatz allerdings nur wenig Spielraum, bewegte sich in einem von Regierung und Parlament gesetzten engen Rahmen: Aufgaben, Richtlinien, Kontingentgrößen bis hin zur Bewaffnung waren politisch gesetzt und nur in einem langwierigen Prozess zu verändern. So waren den Kommandeuren vor Ort oft die Hände gebunden, und sie liefen den Realitäten eigentlich immer hinterher. Ob die Generalität die Politik immer klar und nachdrücklich auf die Lage in Afghanistan und damit auf die Notwendigkeit der Anpassung des Mandats an die Realitäten vor Ort hingewiesen hat, muss bezweifelt werden. Allerdings lässt sich der Informationsgang von den PRTs über das RC North, das Einsatzführungskommando, den Generalinspekteur bis hin zum Minister und schließlich ins Kabinett bislang nicht genau nachvollziehen. Das eigentliche Nadelöhr scheint wie in früheren Jahrzehnten der Generalinspekteur gewesen zu sein. Gleichwohl: Jeder politische Entscheidungsträger, der wissen wollte, was in Afghanistan los war, konnte sich leicht ein Bild machen. Selbst die reichlich deskriptiven Unterrichtungen der Obleute des Verteidigungs- und des Auswärtigen Ausschusses sprachen zwischen den Zeilen eine unmissverständliche Sprache.

In gewisser Weise war die militärische Führung ebenso strategielos wie die Bundesregierung.

Und auch auf der operativen Ebene machte die Bundeswehr Fehler, nutzte vorhandenes Wissen über das Land zu wenig und stieg zu spät und zu zaghaft in die Unterstützung der afghanischen Armee ein. Doch wie man es dreht und wendet: Für den Ausgang der ISAF-Mission war das alles nicht entscheidend. Entscheidend war der Glaube der internationalen Gemeinschaft, am Hindukusch einen starken Staat mit einer sauberen Verwaltung aufbauen zu können. Das aber sollte sich bald als Illusion erweisen. Eine grundlegende Änderung der Lage konnte die Bundeswehr unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht bewirken. Die Truppen hatten kaum Einfluss auf die regionalen Machtstrukturen und schon gar nicht auf die kulturellen Prägungen, etwa die traditionell schwach entwickelte Loyalität zur Regierung in Kabul. Gegen die Skepsis, die weite Teile der Landbevölkerung der Moderne entgegenbrachten, war kein Ankommen. Machtstrukturen, von denen alle profitieren, waren in einem Land mit einer solchen Vielzahl von Loyalitäten kaum zu errichten – schon gar nicht von christlichen Ausländern, die noch nicht einmal die Landessprachen verstanden.

Andererseits wurde zumindest in den Anfangsjahren die Chance einer gewissen Stabilisierung der Lage vertan, weil die westliche Staatengemeinschaft sich zu sehr auf die Stadt Kabul konzentrierte, zu spät in die Fläche ging und insgesamt zu wenig in den Wiederaufbau investierte. Vor allem Briten und Amerikaner setzten im Süden und Osten des Landes anfangs ausschließlich auf die militärische Karte. So gesehen trägt auch die Bundesregierung einen nicht unerheblichen Teil der Verantwortung: Sie stellte viel zu wenig Mittel für den Aufbau einer afghanischen Polizei zur Verfügung, und die Gelder für zivile Projekte flossen erst seit 2009 reichlich.

Heute ist zu fragen, was die deutsche Politik und die Bundeswehr aus den Erfahrungen in Afghanistan gelernt haben. In der Tat wurden in den Ministerien die Erfahrungsberichte studiert, Ausbildungsweisungen angepasst, im Auswärtigen Amt gar eine Abteilung Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge unter Leitung des ehemaligen Botschafters in Kabul gebildet. Ein gewisser Lernerfolg lässt sich in vielen Ressorts beobachten. Ob das Potential immer ausgeschöpft wurde, darf bezweifelt werden: Wenn man hört, dass Gefechtsberichte für die Ausbildung nicht frei verfügbar sind, die PRT-Kommandeure noch nie zu einem Erfahrungsaustausch zusammenkamen, manches Debriefing allzu knapp ausfiel, dann ist anzunehmen, dass die Bundeswehr im Lernprozess unter ihren Möglichkeiten blieb. Ob die politischen Ressorts mit einer grundlegend besseren Bilanz aufwarten können, erscheint ebenfalls zweifelhaft.

Weit bedeutender ist aber der Blick auf das sicherheitspolitische System insgesamt, also die Interaktion von Kanzleramt, Verteidigungsministerium, Auswärtigem Amt, Entwicklungshilfe- und Innenministerium, von nachgeordneten Behörden wie dem BND, aber auch dem Parlament. Noch steht die Zeitgeschichte erst ganz am Anfang ihrer Beschäftigung mit dem deutschen Engagement in Afghanistan. Momentan könnten diese Fragen wohl nur im Kanzleramt beantwortet werden, weil es der einzige Ort ist, an dem alle Stränge zusammenlaufen. Freilich ist dort keinerlei Interesse zu erkennen, sich mit Fehlern der Vergangenheit zu befassen.

Und so scheint sich in Mali in gewisser Weise alles noch einmal zu wiederholen. Die Bundeswehr ist 2013 den Franzosen ähnlich strategielos nach Westafrika gefolgt wie 2001 den Amerikanern an den Hindukusch. Ob das derzeitige Nebeneinander von fünf Missionen, die von Frankreich, der UN, der EU (zwei) sowie der Afrikanischen Union getragen werden, wirklich effizient und zielführend ist, muss bezweifelt werden. Ähnlich wie in Afghanistan spielt die internationale Gemeinschaft mittlerweile eine zentrale Rolle für die Aufrechterhaltung des Staates. Ohne ihr Engagement würde Mali schnell ein Opfer militanter Extremisten werden. Jedoch ist es in den vergangenen sieben Jahren nicht gelungen, nennenswerte Fortschritte im Aufbau einer sauberen Verwaltung und der Lösung der dortigen Konflikte zu machen. Die einzige wirkliche Lehre, die die Bundesregierung aus dem Afghanistan-Einsatz gezogen zu haben scheint, ist, dass sich Deutschland nie wieder in einen Krieg hineinziehen lassen darf und man sich deshalb strikt auf eine Ausbildungsmission konzentriert. Die Quadratur des Kreises wiederholt sich: die Bundeswehr aus außenpolitischen Gründen in eine Auslandsmission zu schicken, deren Aufgaben aber nicht von den Notwendigkeiten vor Ort, sondern von der Innenpolitik bestimmen zu lassen. Eine wirkliche Verbesserung für Mali wird schon aufgrund dieses Strukturfehlers kaum zu erreichen sein.

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