Dingo der Bundeswehr auf Patrouillenfahrt in Afghanistan kurz nach dem Karfreitagsgefecht im April 2010. Foto: Bundeswehr/PIZ Kunduz

Dingo der Bundeswehr auf Patrouillenfahrt in Afghanistan kurz nach dem Karfreitagsgefecht im April 2010. Foto: Bundeswehr/PIZ Kunduz

Von Philipp Kohlhöfer

Jahrelang versucht Hauptfeldwebel Jens Niemeyer alleine mit seiner PTBS klarzukommen. Erst als er eine Therapie beginnt und im April 2022 bei der Sportschule in Warendorf aufgenommen wird, verbessert sich seine Situation langsam: Im September gewinnt er bei den Invictus Games in Düsseldorf Medaillen im Bogenschießen und Kugelstoßen.

Er ist am Ende dann doch so etwas wie das inoffizielle Gesicht der Spiele. Jens Niemeyer sitzt im aktuellen Sportstudio im ZDF, Prinz Harry neben ihm und Boris Pistorius. Er ist Gast in einem Podcast und kommt vor bei ein paar Beiträgen im Fernsehen. Er gewinnt die erste Medaille für das deutsche Team, Bronze im Kugelstoßen, und die letzte auch, Gold mit der Mannschaft im Bogenschießen und am Schluss, bei der Closing Ceremony, spricht er ein paar Worte an die Öffentlichkeit, an Ehefrauen und -Männer, Kinder und Kameraden, als Teil der Mannschaften zwar, „a word from us to you“, aber es ist eben er, der spricht.  Er sagt da: „Thank you for my second life.“

Denn um das Gewinnen ging es nie. Nie um die Öffentlichkeit. Und angedeutet hatte es sich schon gar nicht. Denn lange baut Jens Niemeyer Modelle.

Transall in allen Größen, Fokker, Junkers, dazwischen Autos und Boote, und immer wieder Helikopter, Mi-8, Bo-105, der UH-1, den jeder aus Vietnamfilmen kennt, alles möglichst detailliert, jedes Teil so, dass man es wiedererkennt, dass es funktioniert, das ist der Anspruch und wenn der kleine Bildschirm sich einschaltet und die Radarsimulation funktioniert, dann ist im Kopf einigermaßen Ruhe.

Zweieinhalb Jahre baut Jens Niemeyer Modelle. Nicht diejenigen, die man als Kind hat, wo man mit kleinen Händen noch kleinere Plastikteile zusammenklebt. Er baut Flugzeuge, die Fallschirmspringer transportieren, die automatisiert abspringen, und manchmal in Bäumen hängenbleiben, so wie das bei ihm auch mal war. Das größte Flugzeug hat eine Spanweite von etwas über sieben Metern, es funktioniert, wie alles, was er baut, aber um das Fliegen geht es nicht wirklich. Und eigentlich geht es auch nicht um das Bauen.

Es ist sein Versuch sich selbst zu therapieren. „Ein Extrem durch das andere ersetzen“, sagt er. Er sagt: „Der Kopf hat was zu tun, andere Sachen verlieren dann an Präsenz.“ Jens Niemeyer, 42, Mitglied im DBwV, Hauptfeldwebel im Fallschirmjägerregiment 31, der letzte Einsatz 2010 in Afghanistan, hat PTBS. Seit Mai 2020 ist er in Therapie. Im September tritt er bei den Invictus Games in Düsseldorf an, in vier Disziplinen.

Im Kugelstoßen gewinnt Niemeyer am ersten Tag der Leichtathletik - Wettkämpfe die Bronzemedaille. Foto: Privat/Niemeyer
Im Kugelstoßen gewinnt Niemeyer am ersten Tag der Leichtathletik - Wettkämpfe die Bronzemedaille. Foto: Privat/Niemeyer

Sport hilft, als Teil der Therapie, bei Niemeyer vor allem: Bogenschießen. Das wirkt besser als jedes Medikament, denn die Zeit heilt keine Wunden bei PTBS. Die Krankheit ist eine verzögerte psychische Reaktion des Körpers auf ein extrem belastendes Ereignis, oder wie bei ihm: mehrere Ereignisse. Es ist der Versuch des Organismus eine lebensbedrohliche Situation zu verarbeiten – und der macht krank. Der Geist steuert den Körper, der Stress kann sich bis in den Zellkern fressen, an der DNA nagen, den Informationsfluss stören, den Bauplan beschädigen. Es ist eine Verletzung, die im Kopf stattfindet, eigentlich. Trotzdem werden im Körper Nebenkriegsschauplätze eröffnet, es kann sein, dass Symptome auftreten für Herzinfarkt, Schlaganfall, du bist kurz davor zu sterben, sagt der Körper, und das ist so real, dass eine Not-OP vorbereitet wird, aber organisch findet sich gar nichts. Zwar reagiert jeder Mensch verschieden auf traumatische Ereignisse, was aber immer gilt: Man wird dadurch nicht geselliger.

Niemeyer hat sich selbst nicht mehr verstanden. „Nach dem Einsatz“, sagt er, „hätte ich nicht gedacht, dass ich irgendwann in Therapie gehen müsste.“ Es fühlte sich nicht so an damals, die Krankheit kam nicht im Sprint, sondern ging in den Marathon. Er sitzt in der Kaserne in Seedorf, manchmal schlägt er die Hände vors Gesicht, knetet seine Finger, zwei, drei Kameraden dabei, der Platz ist belebt, ständig kommt irgendwer vorbei. Er kennt den Ort und deswegen geht das ganz gut. An fremde Orte dagegen kann er nicht mehr wirklich, und wenn doch, dann sucht er immer sofort nach den Ausgängen: Wo sind die Fluchtwege? Warum steht derjenige dort und was will er damit bezwecken? Werde ich bedroht? Er versucht zehn Jahre lang sich selbst zu helfen. Es ist keine gute Idee: Er zieht sich zurück, hat wenig Kontakt nach außen, und trifft er doch mal Menschen, stößt er sie vor den Kopf. Er verwahrlost, achtet sich selbst nicht mehr, will alles kontrollieren. Lesen geht nicht mehr, weil Konzentrieren nicht mehr gut funktioniert, wenn keine andere Beschäftigung dazu kommt. Er ist forsch, kurz, knapp, zackzack, auch bei der Familie und seinen Kindern, das hat nicht geholfen, „gelitten“ haben die, sagt er. Niemeyer weiß das alles, unbewusst, jahrelang, aber er lässt es nicht an sich ran. Du bist nicht der, der du vor dem Einsatz warst, das hört er öfter. Unsinn, denkt er, vielen geht es deutlich schlechter als mir. Ihm fehlen keine Gliedmaßen, er ist nicht blind, er hat keine Verbrennungen. Er nimmt sich vor sich nicht so anzustellen. Das bekommt er schon hin. Aber wird er zum Grillen eingeladen, dann erfindet er Ausreden, er würde ja gerne, aber er hat keine Zeit. Die Wahrheit ist: Den Geruch von verbranntem Fleisch kann er nicht ertragen.

Und von außen kann man nichts sehen.

PTBS existiert nicht für alle ohne PTBS. Das macht es schwer für diejenigen, die außerhalb des eigenen Kopfes sind, überhaupt zu erkennen, dass es ein Problem gibt. Man kann darüber reden, sich einlesen, aber vorstellen kann man sich das nicht, weil es bei jedem anders ist: Depressionen, Zwangsstörungen, Angst, Konzentrationsprobleme, das kommt alles vor, aber nicht zwingend bei allen, dazu das Gefühl völliger Hilflosigkeit, ständige Erschöpfung. PTBS ist wie die Dachorganisation, unter der sich eigene Abteilungen bilden, Krankheiten organisieren. Der Name verbindend ein Programm, das bei allen anders läuft, eine Verwundung, die unsichtbar ist. „Manchmal“, sagt Jens Niemeyer, „habe ich mir gewünscht, dass mir ein Arm fehlt, damit man was Visuelles hat, dass die Leute auch erkennen können“.

Weil Einsatzschädigungen aber eben nicht immer erkennbar sind, muss die Bundeswehr sich bei der Versorgung der Veteranen neu aufstellen, zumindest in einigen Bereichen. Bereits vor drei  Jahren war das eine der Forderungen des BDwV. Damals veröffentlichte der Verband das Positionspapier „Mission Seele“, in dem er einen engeren Umgang mit einsatzgeschädigten Veteranen forderte. Eine Dinge sind mittlerweile umgesetzt, so haben etwa Angehörige von psychisch Einsatzversehrten mittlerweile einen eigenen Anspruch auf Psychotherapie gegenüber der Bundeswehr. Die Zeitenwende hebt das Thema aber auf ein anderes Niveau, schließlich hat sich die sicherheitspolitische Situation entscheidend geändert und die Arbeit mit Einsatzversehrten ist immer auch ein Zeichen von Respekt - und damit auch eine Versicherung, dass die Betroffenen den Glauben an das System „Bundeswehr“ nicht verlieren. „Deswegen war es an der Zeit für eine neue Initiative des Verbands, um weitere Verbesserungen zu erreichen“, sagt Oberstabsfeldwebel Stefan Sprengers, der als Vorsitzender Sanität im Bundesvorstand des DBwV das Vorhaben federführend vorangetrieben hat. Das Ergebnis ist „Mission Seele 2023“. Das neue Papier fordert einerseits die Bewältigung neuer Herausforderungen, so dürfe sich die Versorgung psychisch erkrankter Soldaten nicht nur auf klassisch Einsatzversehrte beschränken, bekräftigt andererseits aber die nicht umgesetzten älteren Ideen - schließlich dauern Veränderungen deswegen so lange, weil sie oft eine andere Politik nach sich ziehen.

2010 war Niemeyer das letzte Mal in Afghanistan. Das Land hat ihn nicht mehr losgelassen, sprichwörtlich. 2020 beginnt er mit einer Therapie. Foto: Privat/Niemeyer

2010 war Niemeyer das letzte Mal in Afghanistan. Das Land hat ihn nicht mehr losgelassen, sprichwörtlich. 2020 beginnt er mit einer Therapie. Foto: Privat/Niemeyer

Niemeyer ist davon nicht mehr betroffen. Als er die Modelle baut, ist er so fokussiert, dass alles andere dahinter verschwindet. Es ist sein zweiter Versuch seinen Kopf zu kontrollieren: Davor ist er süchtig nach Sport. Er isst nach der Uhr, trainiert ständig, muss was zu tun haben. Hilft das gegen PTBS? „Ist wie der Jojo-Effekt nach einer Diät“, sagt er. Kurzfristig passt es, aber weil nicht aufgearbeitet wird, sondern nur weggeschoben, kommt der Sturm im Kopf stärker zurück, wenn er nicht pumpt, nicht baut. Und so geht das irgendwann nicht mehr.

Er feilt, schraubt, klebt, macht, tut – und dann ist das Interesse weg. Von jetzt auf gleich, Maschine ausgeschaltet, Stecker gezogen. Er bleibt im Bett liegen, anderthalb Tage liegt er da, regungslos und da ist klar, dass sich was ändern muss. Er sagt: „Es war der Abgrund und zugleich der Start.“

Kennt er alles so in etwa, sagt Michael Hüngerle, 53, Kampfhubschrauberregiment 36, Oberstabsfeldwebel, 33. Dienstjahre mittlerweile, sieben Auslandseinsätze, die meisten davon in Afghanistan. 2009 nach Schließung der Kaserne in Bad Segeberg, wechselt er in das militärische Nachrichtenwesen. Der Stress wird nicht weniger: Schusswechsel, Raketenangriffe, Exhumierung von Massengräbern, Bosnien, Kosovo, „einiger Mist“, sagt er. Er sagt, er hat einiges hinter sich: „Bisschen was.“ Und ein bisschen zu viel, denn aus den Einsätzen bringt Oberstabsfeldwebel Hüngerle (Foto unten: DBwV/Philipp Kohlhöfer) , Grenadier, Bilder mit, die sich wie ein zäher Kaugummi in ihm festkleben und immer wieder auftauchen, ihn zurückwerfen nach damals.

Hüngerle ist ebenfalls in Therapie, seit 2016, im Dezember 2023 wird er sie abschließen. Er ist aus Fritzlar mit dem Auto angefahren, da ist er stationiert, eigentlich wollte er mit dem Hubschrauber kommen, mit Kameraden, die noch in der Ausbildung sind, und ihn mitgenommen hätten, „Flugstunden kloppen“, sagt er, aber Nebel hat das verhindert. Weil er Jens Niemeyer allerdings versprochen hat zu kommen und man gefälligst zu seinem Wort steht, kommt er dann eben mit dem Auto, auch wenn das dreimal so lange dauert. Er wird ihm eine Optik überreichen für die Invictus Games.

Am Tag der Werte dieses Jahr redet Hüngerle mit seiner Staffel über die Spiele, er erwähntee seinm Kameraden Jens Niemeyer. Den hat er drei Jahre zuvor bei Facebook entdeckt, Niemeyer erzählt ihm seine Geschichte, „Das war der Auslöser“, sagt Hüngerle. „Ich wollte ihn unterstützen“. Einerseits: Er will Hilfe geben, weil es bei ihm selbst lange gedauert hat, bis er welche bekommen hat. Andererseits: Man kennt sich. Beide sind in Bad Segeberg stationiert, Niemeyer ist Gruppenführer, Hüngerle Zugführer, 2008 verlieren sie sich aus den Augen. Finden sich über die Postings erneut. Sie telefonieren.

Sie reden, dies, dass, und dann bittet Jens Niemeyer Michael Hügerle um einen Gefallen, denn der ist Hobbyjäger, er kennt sich aus mit Optiken: Ob er sich mal ein Fernglas ansehen könne? Er braucht das zum Bogenschießen, er will wissen, ob das was taugt, er schickt es seinem Kameraden. „War Schrott“ sagt Hüngerle. „Taugte nichts“. Er will das so nicht stehen lassen. Er hat Verbindungen zu Optikherstellern, er will was Sinnvolles tun. Da kann man vielleicht was machen, denkt er. Und die Kameraden aus seiner Einheit der 2. Staffel des Kampfhubschrauberregiment 36 spenden, der Hersteller DDoptics packt was drauf, das Fernglas ist schnell besorgt. Später, im September, wird es Niemeyer dabei helfen, bei den Invictus Games Gold im Bogenschießen mit der Mannschaft zu gewinnen.

Jetzt sagt er: „Ich freu mich richtig, dass das geklappt hat“. Das Fernglas, aber vor allem: Das Widersehen. Er muss sich zusammenreisen, er sagt: „Sonst heule ich hier.“ Man wird schnell emotional bei PTBS.

2014 verlässt Jens Niemeyer die Bundeswehr. Aufgearbeitet ist bis dahin gar nichts. Er will Lehramt studieren im Hamburg, Bundeswehruni, das ist die Idee. Seine Lebensumstände machen das kompliziert, dazu kommt, dass die Infanterie im Studiengang ein Imageproblem hat. „Infanterie kann keine intellektuellen Standards erfüllen“ sagt Niemeyer, „solche Sätze musste ich mir anhören“. Er kann das nicht ertragen, er lässt das Studium bleiben. Stattdessen wird er Erzieher, Schwerpunkt: Traumatisierte Kinder. Er arbeitet nebenbei in Jugendunterkünften, er besteht alle Abschlüsse mit Bravour. Es ist 2018 und Jens Niemeyer, Zivilist, Veteran, kann sich den Arbeitgeber aussuchen: Intensieverselbstständigung mit Jugendlichen, ein Training zur Alltagsbewältigung, aber er will Psychologie studieren, Fernstudium in Mannheim. „Glorreiche Idee“, sagt er, denn letztlich ist das alles nur ein Teil des Versuchs der Selbsttherapie. Er merkt das dann selbst, zum Studium kommt es nicht mehr, er sagt: „Ist wie beim Kneipier: Wenn du selbst dein bester Kunde bist, kann das nicht funktionieren.“

Niemeyer kauft ein in einem Supermarkt mit den Jugendlichen, mit denen er arbeitet, als er zufällig einen Kameraden trifft von früher, sie reden, es wird schnell konkret. Der Kamerad macht eine Therapie bei der Truppe, das läuft gut: Wäre das nicht was für dich? Niemeyer findet das abwegig. Was soll er da? Er denkt: Stell dich nicht so an, verdammt. Es dauert knapp vier Monate, bis er einen Termin macht beim Oberstabsfeldwebel, der ist außerdem Lotse für Einsatzgeschädigte, Hauptamtlich, so heißt das, er hat eine spezielle Ausbildung, redet manchmal, hört meistens zu, hilft den Soldaten. Am Tag, als sie sich treffen sollen, fährt Niemeyer um das Gebäude, einmal, zweimal, dreimal, er fährt zurück, wieder hin, nochmal zurück, er will hier gar nicht hin. Was soll das, denkt er, er ist unsicher und mit der Bundeswehr will er auch nichts mehr zu tun haben. „So dachte er“, habe ich jetzt hier weggelassen, weil das ja klar ist, dass du in dem Moment so dachtest, und später nicht mehr: du bist ja wieder dabei. Das scheint mir also redundant. Falls du aber darauf bestehst, dann würde ich da „Für den Moment“ schreiben, dann wird es ja klar, dass da jetzt nicht mehr gilt. 

Schließlich geht er doch ins Büro. Er ist kaum dort, und es dauert nicht lange, bis sich irgendwelche Tore öffnen und eine Gefühlsebene nach oben lassen, die schon lange da ist, sich im Unterbewusstsein versteckt hatte und jetzt aus der Verdrängung kommt. Niemeyer sagt: „Der Schlüssel ist Reden und Zuhören“.

Er kündigt seinen Job. Im Mai 2020 kommt er zurück zur Bundeswehr. PTBS kann man nicht heilen, zumindest ist das die Lehrmeinung. Das Ziel: Lernen damit zu leben. Neu konditioniert werden, damit die Trigger kontrollierbar sind, weitgehend zumindest.  Schnell kommt das Thema auf die Sporttherapie in Warendorf. Klar, denkt er, Sport hat er immer gerne gemacht, im April 2022 wird er aufgenommen. „So ein wichtiges Tool“, sagt er, „und gleichzeitig wissen so wenige davon“. Er muss sich zusammenreisen, kurz bricht seine Stimme, er fängt sich. „Das ist absolut Schade“.

Im Juli 2022 bekommt er die Zusage an den Invictus Games teilnehmen zu können. Den Sport dazu muss er sich noch aussuchen, denn erst danach wird geguckt: Welcher Sport ist aus ärztlicher Sicht gut für dich? Niemeyer entscheidet sich für vier Disziplinen: Diskuswerfen, Kugelstoßen, Schwimmen, Bogenschießen.

Vor allem: Bogenschießen. Der Sport hat ihn wieder unter Menschen gebracht, er macht es so oft es geht, denn die Konzentration hilft ihm, es ist entschleunigend, es erdet. Seit er schießt braucht er auch keine Medikamente mehr, um durch den Tag zu kommen. „Fast keine“, sagt er. Er sagt.: „Der Bogensport gibt mir so viel.“ Elf Trainingslager hat er mittlerweile hinter sich. Und jetzt auch eine gute Optik.

„Naja“, sagt Hüngerle, „das Verschenken hat ja auch einen positiven Nebeneffekt für mich“. Das gehört zur Heilung dazu, sagt er, dass man das, was man selbst nicht erfahren hat, an einen anderen weitergeben kann. Und dabei geht es dann eben nicht um die Optik, es geht um Unterstützung, um support, um die Idee. Darum, dass man Menschen nicht hängenlässt.

Knapp vier Wochen nach dem Karfreitagsgefecht sucht ein Soldat nach versteckten Sprengfallen. Foto: Bundeswehr/PIZ Kunduz

Knapp vier Wochen nach dem Karfreitagsgefecht sucht ein Soldat nach versteckten Sprengfallen. Foto: Bundeswehr/PIZ Kunduz

2017 verbringt Hüngerle 180 Tage, besser: Nächte, auf dem Hochsitz, nicht, weil er was schießen will, darum ging das nicht, sondern, weil er dort gut schlafen kann. Weil ihn das entspannt und er den Überblick hat. Der Hochsitz ist sein Bogensport. Im Jahr zuvor hatte tagelang im Keller seines Hauses übernachtet, weil dort die Fenster vergittert sind. PTBS bei ihm, das war: Jeder ist ein Feind. Die Bedrohung kommt aus jeder Ecke. Dazu seine Reaktion: Die Zündschnur kurz, die Kritikfähigkeit nicht vorhanden, ständig dafür das Gefühl, dass er sich verteidigen muss – obwohl niemand angreift. Angst, Beklemmung, Gereiztheit, Wut, das sind klassische Symptome der PTBS. Bei Hüngerle kommt dazu: Er kann keine Hubschrauber sehen, keine Uniform, nichts, was mit der Armee zu tun hat. Nicht mal mehr das Wort aussprechen, „Bundeswehr“ wurde zu „der Verein“, Selbstschutz. Im Januar 2016 bricht er beim Truppenarzt zusammen. Nach Jahren der Therapie sagt er: „Es geht mir jetzt gut“. Aber der Weg dahin ist hart. Für alle.

Eine Untersuchung der TU Dresden, Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie, mit 2488 Teilnehmenden kommt zu dem Schluss, dass fast die Hälfte aller Bundeswehr-Soldaten mit Auslandseinsätzen ein traumatisches Erlebnis hat, 13 Prozent sogar mehr als drei. Die Untersuchung wird von der Bundeswehr unterstützt. Darin heißt es, dass der Zusammenhang zwischen „stressreichen militärischen Ereigniskonstellationen sowie als traumatisch definierten Ereignissen und dem Auftreten einer posttraumatischen Belastungsreaktion“ gut belegt sei. „Die PTBS-12-Monats-Prävalenz nach Rückkehr betrug 2,9 Prozent“. Das entspreche einem bis zu 4fach erhöhtem PTBS-Risiko. Allerdings sind das nur die Zahlen für Deutschland, bei britischen Soldaten beträgt die Prävalenz vier Prozent und bei amerikanischen zwanzig – wobei die amerikanische Zahl nicht als Vergleich dient, weil sie möglicherweise auch mit dem geringen Krankenversicherungsschutz und dem amerikanischen Rechtssystem erklärt werden kann. Unstrittig ist jedoch: „Kampftruppen am Einsatzort Kunduz hatten das höchste Risiko.“

Soldaten des Bravo-Zugs im September 2010 im Feuergefecht in Qala e Zal. Foto: Bundeswehr/von Söhnen
Soldaten des Bravo-Zugs im September 2010 im Feuergefecht in Qala e Zal. Foto: Bundeswehr/von Söhnen

Jens Niemeyer ist in Kunduz. Es ist 2010, er ist Fallschirmjäger. Kunduz ist weit weg und doch immer um die Ecke. Auch jetzt, dreizehn Jahre später, wo eigentlich die Kantine um die Ecke ist, sie heißt Drop Zone, schließlich sind das die Fallschirmjäger, es gibt Leberkäse mit zwei Spiegeleiern. Eines von seinen Transall-Modellen hängt unter der Decke. Er hat den Bau begonnen, die Kameraden des Standortes haben ihn beendet, Teamwork, Kameradschaft, wie das sein soll in einer Armee, denn manchmal ist der Einsatz eben nicht beendet, wenn der Einsatz beendet ist. Das Modell ist ziemlich groß und doch das kleinste, dass er je gebaut hat. Hinten, in der geöffneten Tür des Modells, steht ein Fallschirmjäger. Bereit zum Sprung. Niemeyer sagt: „Ich werde nicht sagen, was mit mir passiert ist.“ Nicht, weil er es nicht mehr weiß, sondern weil es Türen öffnet, die besser verschlossen bleiben sollten. Sein Auftrag: Genesung.

Niemeyer trägt ein schwarzes Armband. „Nils, Martin, Robert“ steht darauf, dazu Daten und der Ort. Bereit zum Sprung? Noch nicht, er sagt dazu nichts, und das ist okay so, natürlich ist es das. Die Fakten: Beim Karfreitagsgefecht, 2. April 2010, fallen Nils Bruns, Hauptfeldwebel, Martin Augustyniak, Hauptgefreiter, Robert Hartert, Stabsgefreiter, Fallschirmjäger aus Seedorf, in einem Hinterhalt bei Isa Khel, Provinz Kundus. Das Bataillon 373 hat den Auftrag Sprengfallen zu beseitigen, IEDs. Gegen 13 Uhr Ortszeit geraten die 34 Soldaten in einen Hinterhalt - etwa achtzig Taliban greifen an. Vier Soldaten sind da gerade auf der Suche nach einer vom Wind abgetriebenen Drohne, und vom restlichen Bataillon hunderte Meter getrennt. Auf freiem Feld nahezu schutzlos und beinahe eingeschlossen, Feuer von rechts, von links, von vorne. Die Angreifer verschanzen sich in Wohnhäusern und nutzen Bewässerungskanäle als Deckung. Es sind Feuergefechte auf Nahdistanz, teilweise sind die Angreifer nur zwanzig Meter entfernt. Spähtrupp und Bataillon kämpfen sich zusammen, aber das dauert über eine Stunde. Hartert wird in den Oberkörper getroffen, als er mit dem Maschinengewehr Feuerschutz gibt, Augustyniak erhält einen Treffer in den Helm, kämpft aber weiter und ist maßgeblich an der Rettung eines Kameraden beteiligt. Knapp zwei Stunden später wird er, beim Versuch auszubrechen, zusammen mit Bruns bei der Explosion eines IEDs unter ihrem Dingo so schwer verwundet, dass beide noch vor Ort ihren Verletzungen erliegen. Hartert stirbt später im Feldlager.

Rund 1230 Gefechte führt die Bundeswehr 2010 und obwohl nur knapp zwei Wochen später vier weitere Kameraden in einem Hinterhalt getötet werden: das am Karfreitag ist das mit Abstand schwerste. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind deutsche Soldaten an länger anhaltenden Kampfhandlungen beteiligt. Neun Stunden insgesamt dauert das Gefecht. Es ist eine Zäsur. Für die deutsche Gesellschaft, für die Soldaten und Soldatinnen vor Ort ohnehin.

„Troops in Contact (TIC)“ nennt die NATO direkte Feuergefechte in die Soldaten der Allianz verwickelt sind. Foto: Bundeswehr/von Söhnen
„Troops in Contact (TIC)“ nennt die NATO direkte Feuergefechte, in die Soldaten der Allianz verwickelt sind. Foto: Bundeswehr/von Söhnen

„Die kumulierte Gesamtzahl PTBS-Erkrankter seit Beginn der deutschen Auslandseinsätze dürfte in die Tausende gehen“, schreiben die Autoren der Dresdner Studie. Das ist reine Statistik, es kann gar nicht anders sein, denn insgesamt sind rund 150 000 deutsche Soldaten in Afghanistan eingesetzt. Wie häufig Soldaten tatsächlich traumatische Ereignisse erleben und daraus eine PTBS entwickeln, ist trotz der Studie nicht wirklich klar. Kann es nicht. Weil sich die Krankheit bei jedem anders äußert und man Probleme zuerst mal erkennen muss, bevor man sie lösen kann, ist die Dunkelziffer vermutlich hoch. Die Zahlen, die die Bundeswehr in den letzten Jahren selbst veröffentlicht: 2022 gibt es 197 PTBS-Fälle, 2021 sind es 210, im Jahr davor 213 und davor wiederum 183. Und so gut die Studie methodisch ist, sie hat einen großen Nachteil: Sie ist von 2012 und damit über zehn Jahre alt.

„Die Summe der Ereignisse“, sagt Niemeyer. Das kann alles Mögliche sein, auch dann, wenn die Situation eigentlich bereinigt ist - und die PTBS kann sich auch in Dingen ausdrücken, die mit dem ursprünglichen traumatischen Erlebnis nichts zu tun haben. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Rund 1230 Gefechte führt die Bundeswehr 2010 und obwohl nur knapp zwei Wochen später vier weitere Kameraden in einem Hinterhalt getötet werden: das am Karfreitag ist das mit Abstand schwerste. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind deutsche Soldaten an länger anhaltenden Kampfhandlungen beteiligt. Neun Stunden insgesamt dauert das Gefecht. Es ist eine Zäsur. Für die deutsche Gesellschaft, für die Soldaten und Soldatinnen vor Ort ohnehin.

„Die kumulierte Gesamtzahl PTBS-Erkrankter seit Beginn der deutschen Auslandseinsätze dürfte in die Tausende gehen“, schreiben die Autoren der Dresdner Studie. Das ist reine Statistik, es kann gar nicht anders sein, denn insgesamt sind rund 150 000 deutsche Soldaten in Afghanistan eingesetzt. Wie häufig Soldaten tatsächlich traumatische Ereignisse erleben und daraus eine PTBS entwickeln, ist trotz der Studie nicht wirklich klar. Kann es nicht. Weil sich die Krankheit bei jedem anders äußert und man Probleme zuerst mal erkennen muss, bevor man sie lösen kann, ist die Dunkelziffer vermutlich hoch. Die Zahlen, die die Bundeswehr in den letzten Jahren selbst veröffentlicht: 2022 gibt es 197 PTBS-Fälle, 2021 sind es 210, im Jahr davor 213 und davor wiederum 183. Und so gut die Studie methodisch ist, sie hat einen großen Nachteil: Sie ist von 2012 und damit über zehn Jahre alt.

„Die Summe der Ereignisse“, sagt Niemeyer. Das kann alles Mögliche sein, auch dann, wenn die Situation eigentlich bereinigt ist - und die PTBS kann sich auch in Dingen ausdrücken, die mit dem ursprünglichen traumatischen Erlebnis nichts zu tun haben. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Schwimmen wollte Niemeyer auch bei den Invictus Games, das mochte er immer gerne. Aber dann steht er in Warendorf am Beckenrand und gar nichts geht. Er kann nicht ins Wasser, geht einfach nicht. Er hat Angstzustände, er zittert, er hat im Wasser noch nie was Schlimmes erlebt. Und so geht es nicht ums Gewinnen in Düsseldorf. Schön, wenn das passiert, aber der therapeutische Ansatz: viel wichtiger. „Es geht darum, dir zu zeigen, zu was du noch imstande bist“.

Auf was er sich bei den Games am meisten freut? „Die Wir-Momente.“ Da muss er nicht lange überlegen. Das Team, die Kameradschaft. Er sagt: „Das, was man im Alltag erleben darf, sollte man eigentlich als Gewinn sehen“.

Jens Niemeyer, Afghanistan im Kopf, hat tausendmal gekämpft. Siegen hat mit Medaillen nichts zu tun. Er sagt: „Wenn ich ins Wasser gehe, dann habe ich schon gewonnen.“

Er steht auf, er zieht die Uniform glatt.

Er gewinnt schon die ganze Zeit.