Suche nach Vorbildern
Was das Selbstverständnis ausmacht, muss auch in der Schlammzone diskutiert und verstanden werden
So viel Unsicherheit war nie. Die – teilweise lautstarke – Empörung, mit der Soldaten fast aller Dienstgradgruppen (nur von Generalen war wenig zu hören) in den vergangenen Wochen auf die öffentliche Kritik der Verteidigungsministerin an „Haltungsproblemen und Führungsschwäche“ der Truppe reagierten, hat eines klar gemacht: Die Rolle des Soldaten in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur in der Gesellschaft merkwürdig verschwommen. Sie wird auch innerhalb der Bundeswehr alles andere als einheitlich wahrgenommen.
Was in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten seit Mauerfall und Ende des Warschauer Pakts, seit dem Wegfall der alten Blockkonfrontation und des Kalten Kriegs, passiert ist, scheint in seiner Gesamtheit erst in diesen Tagen in den Streitkräften angekommen zu sein. Das sind die Auslandseinsätze als Regel-Auftrag, aber auch – seit nicht einmal drei Jahren – eine Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung; gleichzeitig eine Reduzierung und Umorganisation von Personal und Material; dann noch die Aussetzung der Wehrpflicht. Alles Ereignisse, die von verschiedenen Seiten am herkömmlichen Soldatenbild gezerrt haben.
Das Selbstverständnis der Truppe, so ist von außen wahrzunehmen, irrt derzeit zwischen zwei weit entfernten Polen umher: Dem herkömmlichen Verständnis von Landesverteidigung, mit dem Bürger als geborenen Verteidiger seines Landes, und dem Mythos vom Kämpfer, der unbeirrt von politischen Entwicklungen den Waffendienst als Berufung betrachtet. Zugleich gilt das Leitbild der Inneren Führung mit dem „Staatsbürger in Uniform“ weiterhin als das Maß aller Dinge, ohne dass die Frage beantwortet wäre, was diesen uniformierten Staatsbürger heute eigentlich ausmacht – und ob oder wie weit sich der professionelle Soldat, den die heutige Bundeswehr braucht, von diesem Allgemeinheitsideal entfernt hat.
Der Umgang mit der Tradition in der Bundeswehr ist zwar nur ein Teil dessen, was derzeit die Diskussion bestimmt – aber ein wichtiger. Wenn junge Soldaten ikonische Bilder von Kämpfern der Wehrmacht an die Kasernenwand hängen oder zeichnen, ist das fast nie als Reminiszenz an die Streitkräfte eines verbrecherischen Regimes gemeint, sondern ein Ausdruck der Suche nach Vorbildern. Und da muss sich die heutige – ältere – Generation der militärischen Führer fragen lassen, ob und warum sie ihren Untergebenen in den vergangenen Jahren nicht andere Vorbilder haben bieten können – oder warum solche Vorbilder offensichtlich nicht attraktiv genug schienen.
Problematischer ist allerdings, dass die Debatte darüber, was das Wesensmerkmal des Soldaten heute ist, von inzwischen zu vielen verschiedenen Interessen geprägt ist. Hat der IT-Spezialist, der sich im Cyberraum bewegen und, das Wort muss man an der Stelle auch mal benutzen, kämpfen soll, die gleichen Interessen und Probleme wie ein Panzergrenadier? Definiert sich der Gefreite bei den Gebirgsjägern ebenso wie der Logistikexperte? Oder auch: Hat der Feldwebel in seinem fünften Auslandseinsatz das gleiche Bild von seinem Soldatsein wie der Feldwebel, der sein Soldatenleben lang aus der Heimat diese Einsätze organisatorisch erst ermöglicht?
„Als Soldaten und mündige Bürger sind gerade wir es, die besonders authentisch die Sinnhaftigkeit unseres Dienstes und den Auftrag von Streitkräften auch nach außen vermitteln können. Das sollten wir nicht nur anderen überlassen“, schrieb Generalinspekteur Volker Wieker bereits vor fünf Jahren unter der Überschrift „Soldat sein heute“ an die Truppe. Das klingt zwar gut, ist aber bislang nicht eingelöst. Mehr noch: Über die Sinnhaftigkeit des Dienstes und den Auftrag von Streitkräften scheint es derzeit noch nicht einmal in diesen Streitkräften selbst eine zusammenhängende, auch nur halbwegs einheitliche Ansicht zu geben.
Dass eine Debatte über eine Neufassung des 35 Jahre alten Traditionserlasses begonnen hat, die übrigens der Generalinspekteur auch schon – folgenlos – vor fünf Jahren gefordert hatte, ist sinnvoll. Aber das reicht bei weitem nicht aus. Die Streitkräfte in ihrer derzeitigen tiefen Verunsicherung brauchen eine echte Debatte darüber, wie „Soldat sein heute“ verstanden wird. In all seinen Facetten und Ausprägungen, vom Heimatbetrieb über die mittlerweile in Jahrzehnten gelernten Auslandseinsätze bis zur relativ neuen, wiederentdeckten Abschreckung an der Nordostflanke der Nato. Das wird nicht einfach, und die Debatte wird vor allem nicht nur von oben nach unten zu führen sein. Denn die tiefste Verunsicherung gibt es weit unterhalb der Ebene des Ministeriums, der Kommandobehörden und Ämter. Was das Selbstverständnis ausmacht, muss auch in der Schlammzone diskutiert und verstanden werden.
Der Journalist Thomas Wiegold betreibt den sicherheitspolitischen Blog „Augen geradeaus!“.