Iranische Drohnen beim Start: Die fliegenden Bomben sind um ein vielfaches billiger als Kampfflugzeuge und schwerer zu bekämpfen. Foto: IMAGO/Iranian Army Office

Iranische Drohnen beim Start: Die fliegenden Bomben sind um ein vielfaches billiger als Kampfflugzeuge und schwerer zu bekämpfen. Foto: IMAGO/Iranian Army Office

27.10.2023
Von Philipp Kohlhöfer

Zwei Kriege, die Verwandte sind

Kriege sind nie gleich. Vergleichbar aber eben manchmal doch. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und der Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten etwa haben Elemente die ähnlich sind, politisch und militärisch.

Keine zwei Stunden in Kiew und es gibt Luftalarm. Es ist nicht schlimmer als sonst, manche Leute gehen in den Bunker, die meisten ignorieren die Sirene: Shahed 136, die iranische Drohne, die die Ukraine terrorisiert. Man kann das gut hören, weil sie knattert und brummt. Nicht umsonst nennen die Ukrainer sie „Moped“. Die Drohnen fliegen so tief, dass man sie leicht sehen kann, das ist mittlerweile Alltag und wundert niemanden mehr, und es ist der Grund, warum unter jeder Brücke in Kiew ein Pickup-Truck steht. Zwei Männer auf der Ladefläche, einer mit Suchscheinwerfer, einer mit einem kleinen Geschütz, das sieht martialisch aus, aber ist keine besonders moderne Form der Drohnenabwehr – sondern erinnert eher an Terrorgruppen, wobei es in diesem Fall die Ukraine ist, die sich gegen Terror wehrt.

Die Kriege im Nahe Osten und in der Ukraine haben allerdings noch mehr Gemeinsamkeiten. Die Drohnen kommen aus dem Iran. Im Fall der Ukraine ist das erwiesen, in Gaza sehr wahrscheinlich, weil die Hamas logistisch, politisch und auch militärisch von Teheran unterstützt wird. Und auch Russland destabilisiert in der Region, etwa durch das Engagement in Syrien – schließlich ist es sowohl russisches als auch iranisches Ziel, die westliche politische und militärische Dominanz herauszufordern und zu untergraben, um dadurch die politische Landschaft zu ihren Gunsten zu verändern.

Billige kommerzielle Technologien werden militarisiert

Rein militärisch verbindet die Fusion von High-Tech Waffen wie etwa HIMARS und Billigware wie Drohnen die Schlachtfelder in der Ukraine und Nahost. Die Ukrainer haben Drohnen vor allem zu Beginn des russischen Überfalls sehr erfolgreich gegen russische Verbände eingesetzt, so erfolgreich, dass die Russen diese Taktik mittlerweile kopieren – und darüber hinaus versuchen die ukrainische Flugabwehr mit Billigdrohnen zu überschwemmen. Und auch die Hamas hat diese Taktik kopiert.

„Eine der entscheidenden Entwicklungen ist die Militarisierung von verfügbaren billigen kommerziellen Technologien“, sagt Nico Lange. Er ist seit Juli 2022 Senior Fellow, Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz und diente von 2019 bis 2022 als Leiter des Leitungsstabes im BMVg. „Die Drohnen sind sowohl in der Ukraine als auch im Nahen Osten die entscheidende technologische Entwicklung der letzten Jahre.“ Israel hat Jahre und Milliarden in den Bau von Grenzsperren investiert. Die Grenze zu Gaza ist, abgesehen von der innerkoreanischen Grenze, vermutlich die am besten überwachte Anlage der Welt. Bedrohungen können dort erkannt und abgeschossen werden – wenn sie nicht zu klein sind. Was bei Hubschraubern und großen Drohnen problemlos funktioniert , versagt, wenn es sich um kleine und relativ langsame Drohnen handelt. In Videos in sozialen Medien rühmt sich die Hamas, ebensolche vor ihrem Terrorangriff benutzt zu haben, um Überwachungssysteme auszuschalten und die militärischen Kommandostrukturen zu beschäftigen.

Und auch die Ukrainer benutzen improvisierte Drohnen, um damit Luftverteidigungssysteme auszuschalten und Panzer zu zerstören. Zwar sind beide Kriege nicht vergleichbar, die Ukraine wehrt sich gegen Angriffe der russischen Invasoren, die Hamas will den israelischen Staat zerstören, die Art der Kriegsführung ist aber ähnlich, schließlich kämpfen in beiden Kriegen Armeen bzw. armeeähnliche Strukturen gegen einen Gegner, der über eine viel größere Feuerkraft verfügt.

Lange sagt: „Was das für die Israelis bedeutet, wissen wir noch gar nicht.“ In der Ukraine sehe man, das mechanisierte Einheiten, vor allem Kampfpanzer, an der Front keine besonders große Rolle mehr spielen würden, „weil die Arbeit mit den Drohnen auf beiden Seiten mittlerweile so stark ist, dass billige Drohnen Kampfpanzer weitgehend ausschalten.“ Er sagt: „Deswegen auch der Infanteriekrieg, weil die mechanisierten Kräfte nicht mehr so wirken können, wie sie es ohne Drohnen eigentlich tun könnten.“ Man könne nicht ausschließen, dass die Israelis, wenn sie am Boden operieren, ähnliche Erfahrungen machen wie die Russen und dass die mechanisierte Übermacht am Ende gar keine sei.

Kleine Drohnen stellen Flugabwehr vor große Probleme

In großen Maßstab hat zum ersten Mal der sogenannte Islamische Staat kommerzielle Drohnen genutzt. Die Islamisten hatten schnell Nachahmer. Kommerzielle Drohnen, die es in jedem Elektrogroßhandel gibt, werden mit militärischen Sprengstoffen kombiniert. Diese Attacken ersetzen die klassische Artillerie nicht, sind aber ein Fähigkeitsgewinn und unterstützen sie. In so ziemlich allen sozialen Netzwerken kann man zusehen, wie Drohnen Granaten in Schützengräbern und offene Panzerluken, manchmal sogar auf einzelne Soldaten werfen. Was die Ukraine kann, kopiert die Hamas: das gezielte Angreifen israelischer Überwachungssysteme und Beobachtungstürme ist wenig anders.

Die Abwehr kleiner Drohnen ist für alle Kriegsparteien enorm schwer, das gilt für Ukrainer und Russen, aber eben auch für Israelis. Es ist zudem ein Kampf gegen Windmühlen, schließlich kann man in jedem YouTube-Video lernen, wie man eine Drohne umbaut und steuert. Zur Abwehr braucht es ein billiges und effektives System. Dass die Bundeswehr genau das hatte und dass der 2010 aus der Nutzung genommene „Gepard“ auch heute noch hocheffektiv ist, beweist er in der Ukraine jeden Tag. Ihn abzuschaffen ist vermutlich der größte Treppenwitz der jüngeren militärischen Geschichte. Zumal es auch nicht wirtschaftlich ist, mit einer Patriot- Rakete eine Billigdrohne abzuschießen.

Abgesehen von Angriffen: In beiden Kriegen spielen Drohnen eine massive Rolle bei der Informationsgewinnung.  Das gilt ebenfalls für Smartphones. Zivilsten beteiligen sich an Angriffen, in dem sie Daten über feindliche Stellungen teilen. Das ist keine neue Idee, geht aber weit über das Sammeln von Informationen hinaus, weil es im dreidimensionalen Raum funktioniert. Und natürlich geht es viel schneller. Das gilt ebenfalls für das Beobachten, Kommentieren und Teilen auf allen sozialen Kanälen: Der Krieg bleibt nicht auf dem Schlachtfeld, die zweite Front ist immer auch ein Social-Media-Krieg. Beispiele gibt es zuhauf: So spricht nichts dafür, dass die israelische Armee ein Krankenhaus in Gaza beschossen hat und genauso unsinnig ist es, wenn russische Kanäle den ukrainischen Soldaten unterstellen, Raketen auf den Bahnhof in Kramatorsk abzufeuern, aber Fakten zählen mittlerweile weniger als Schnelligkeit. Ein gutes Reel emotionalisiert stärker als ein recherchierter Text – und so hat offensichtliche Unsinnigkeit dennoch nicht verhindert, dass selbst etablierte und anerkannte Medien wie die ARD oder die BBC Falschinformationen verbreiten. Einmal in der Welt, sind sie nicht mehr einzufangen.

Hybrid wird diese Kriegsführung aber nur, wenn sie auch alte Elemente kombiniert. Und das ist sowohl in Gaza als auch in der Ukraine der Fall. Innnovationen und neue Technologien sind eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht nach wie vor Häuserkampf, das Erstürmen von Tunneln und das Ausharren im Graben. Technologie hilft nur bedingt, wenn hinter jeder Wand ein Gegner sitzen könnte und der Raketenstand auf dem Dach eines Wohnhauses platziert ist. Krieg ist dann das, was er schon immer war: Brutal, dreckig und unmittelbar.

Grenzen zwischen Terror und klassischer Kriegsführung verschwimmen

„Was wir jetzt im Nahen Osten und in der Ukraine sehen, ist, dass Krieg geführt wird, während die Bevölkerung da ist“, sagt Lange. „Es gibt immer öfter Krieg in dicht bevölkerten Gebieten.“  

Und dadurch verschwimmen die Grenzen: Terrorismus und Kriegsführung verschmelzen. Die Hamas militarisiert den Terror durch koordinierte Attacken zu Land, zu Wasser und in der Luft. Russland pervertiert Kriegsführung durch das ansatzlose Ermorden von gefesselten Zivilsten und das Verminen von Kinderspielzeug und Leichen. Was auch die Hamas tut. Ein Unterschied ist da kaum noch zu erkennen. Und das gilt, in diesem Fall, auch für das Kriegsziel: Die Auslöschung des Staates Israel auf der einen Seite. Die Verneinung des Existenzrechts der Ukraine auf der anderen. Sowohl bei den Russen als auch bei der Hamas geht es nicht darum, ein bestimmtes Gebiet zu erobern, sondern darum, die andere Seite auszulöschen. Das Massakrieren von Menschen hat keinen militärischen Zweck, produziert aber ausweglose Situationen. Lange fragt: „Worauf soll man sich da einigen?“ Geht nicht, kann man nicht. Sowohl Russen als auch Hamas sind ideologisch so festgefahren, dass man nicht auf deren Einsehen hoffen kann, um die Kriege zu beenden.

Beide Aggressoren zielen denn auch in einer Linie auf Zivilisten. Raketen auf Wohnhäuser, Kindergärten, Umschaltwerke und Museen sind genauso wenig militärische Ziele wie ein Kibbuz. Es ist eine militarisierte Form des Terrorismus. Zwar gibt es keine allgemeingültige wissenschaftliche Definition des Terrorismus, weitgehende Einigkeit herrscht aber darüber, dass mit Gewaltaktionen gegen Zivilisten politische, religiöse oder ideologische Ziele erreicht werden sollen. Nichts anderes ist das Erschießen ukrainischer Fahrradfahrerinnen in Butcha. Und das Abschlachten von jungen Besuchern einer Raveparty nahe dem Kibbuz Re´im.

Unterfüttert ist der Terror von einer ähnlichen Idee: Der Überlegenheit des eigenen Kulturraums. In der Situation Israels ist dies die Idee der Vorherrschaft des Islam mindestens in der Region und der Gottgeweihtheit der Muslime. Im ukrainischen Fall handelt es sich um eine dreihundert Jahre alte Propaganda der geistigen Überlegenheit und der Gottgeweihtheit der russischen Nation. In beiden Fällen sehen sich die Aggressoren bedroht und im Verteidigungskampf. Trotz aller Brutalität werden ihre Attacken für das heimische Publikum umgelabelt und zur Defensive erklärt. Russland wirft der Ukraine alles Mögliche vor und die Begründung für die Invasion wechselt ständig (wer kann sich noch an die deutschen und amerikanischen Biowaffenlabore im Donbass erinnern?), aber ein Motiv bleibt immer gleich: In der Ukraine herrschen angeblich Faschisten, die es zu beseitigen gelte. Mit der gleichen idiotischen Behauptung attackiert die Hamas Israel, wohlgemerkt den einzigen demokratischen Staat der gesamten Region.

In der Geisteshaltung vereint: Die Täter von Butcha und Re´im

Obwohl es von Beweisen für das Gegenteil wimmelt, erklärt Russland, dass es niemals auf Zivilisten schießt oder sie tötet. Die Hamas tut das gleiche, die eigenen Taten werden auch da schnell zu False-Flag-Aktionen umdeklariert. In beiden Fällen gehen die Angreifer äußerst brutal vor, verüben Massaker, töten Kinder, entführen Menschen, foltern. Dabei sind die Massaker viel mehr als das. Sie sind eine fundamentalistische Kriegstechnik, die eine Nachricht transportiert: Ihr gehört hier nicht hin, ihr habt auf diesem Land nichts verloren. In der Geisteshaltung ist eine klare Linie erkennbar von Butcha nach Re´im.

Obwohl die Attacken in ihrer Stärke und Brutalität überraschend kamen, waren sie selbst es eigentlich nicht. Der Nahostkonflikt köchelt seit Jahren vor sich hin und auch der Krieg in der Ukraine startete nicht im Februar 2022, sondern begann mindestens 2014 mit der Annexion der Krim, eigentlich aber schon rund zwanzig Jahre früher, als Russland anfing, die Ukraine zu destabilisieren. Beiden brutalen Attacken ging ein Krieg auf niedriger Intensität voraus. So war 2022 das tödlichste Jahr in Israel und auch im Donbass gab es immer wieder Scharmützel, die meist von den von Russland unterstützen Separatisten ausgingen. Anzeichen, dass diese „Low-cost-Kriege“ sich sowohl in Nahost als auch in der Ukraine zu einem größeren Krieg ausweiten, gab es zuhauf. Und dennoch: Die Weltöffentlichkeit war überrascht.

Und obwohl die Eskalation in beiden Fällen absehbar war: Niemand fühlte sich zuständig. Russland bricht seit Jahrzehnten alle Regeln der internationalen Zusammenarbeit und außer Mahnungen kam wenig aus Europa und den USA. Im Gegenteil: Vor allem die Deutschen haben die wirtschaftliche Zusammenarbeit, abgesehen von wenigen halbgaren Sanktionen, sogar noch verstärkt. Kritisiert wird dafür Israel, obwohl es das einzige Land in der Region ist, in dem Demonstrationen ohne Blutvergießen ausgetragen werden können. Die Idee in beiden Fällen: Zu deeskalieren. Es ist unmöglich nachzuweisen, aber vielleicht hat gerade dieser Versuch zu deeskalieren, die Lage in beiden Fällen erst eskaliert. Tatsache ist, dass der politische Westen eine klare Positionierung in beiden Fällen versäumt hat, ganz zu schweigen von konkreter Hilfe, die über warme Worte hinausgeht. Man kann das als Zeichen der Schwäche missverstehen und womöglich war es das auch. Sowohl in der Ukraine als auch im Nahen Osten wurde von Europäern und US-Amerikanern in den letzten Jahren immer nur reagiert, aber eben nie agiert.

Obwohl Russland aufgrund der großen Zahl ausgewanderter Russen eigentliche relativ gute Beziehungen zu Israel unterhielt und Israel das durch die Ablehnung der Lieferung von Waffensystemen an die Ukraine spiegelte, ist es bei all den Gemeinsamkeiten zur Hamas nicht verwunderlich, das Russland freundschaftliche Beziehung zu der Terrororganisation unterhält. Es würde zu weit gehen, den Russen eine direkte Beteiligung an den Attacken vom 7. Oktober zu unterstellen. Eine direkte Verbindung, sagt Lange, „da bin ich mir nicht sicher“. Aber man lerne voneinander. „Man sieht die Dinge und versucht das selbst auch auszuprobieren. Dafür, dass die Hamas mit Drohnen Granaten auf israelische Wachtürme abwirft, braucht sie kein Training der Russen.“ Das könne man auch im Internet sehen. „Im Grunde haben die Ukrainer die Technik erfunden, die Russen haben es von den Ukrainern kopiert und die Hamas kopiert es nun von beiden.“ Dass das Ergebnis, eine Destabilisierung des Nahen Ostens Russland gut ins geopolitische Konzept passt, versteht sich von selbst.

Narrative Russlands und der Hamas ähneln sich

Russland verbreitet über seine eigene Mediakanäle denn auch Narrative, die Israel als Unterdrückerstaat beschreiben, die Verschwörungstheorien erzählen und die die Amerikaner für das Leid der Welt verantwortlich machen. Die Hamas tut das ebenso (und der Iran). Die Erzählung verstärkt sich auch dadurch, dass die Geschichten im Westen teilweise auf tiefsitzende Vorurteile treffen und an Antisemitismus und Russophilie andocken – und so von Teilen der Gesellschaft weiterverbreitet werden.

Auf dem Rückweg aus der Ukraine zwei Tage Lviv. Es ist kein Luftalarm, in Gaza hat die Bodenoffensive an diesem Tag noch nicht begonnen. Alles friedlich, aber es gibt die Gleichzeitigkeit von Soldaten und Hafermilch, Waffen und Oberlippenbärten, Flugabwehr und weißen Sneakers. Ein Straßensänger singt „Hurt“ von Johnny Cash. Der Text könnte nicht besser passen, denn seit dem 7. Oktober kommt eine Beklemmung dazu, weil es ein scheinbar ein Muster gibt, das dupliziert werden kann und das offenbar auch dupliziert wird.

Es gibt Parallelen zwischen den Angriffen der Russen und der Hamas, militärisch, politisch, ideologisch. Und das wird so bleiben und vermutlich nicht auf diese Akteure beschränkt, da muss man nur in das chinesische Internet sehen. An den Tagen im Oktober in Lviv ist das nicht die Ruhe vor dem Sturm, denn der hält an.
Windstill ist es auch im Auge des Hurrikans.

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