Im Januar 1956 rückten die ersten Soldaten der wenige Wochen zuvor, am 12. November 1955, gegründeten Bundeswehr in die Krahnenberg-Kaserne in Andernach ein. Foto: Bundeswehr/Baumann

Im Januar 1956 rückten die ersten Soldaten der wenige Wochen zuvor, am 12. November 1955, gegründeten Bundeswehr in die Krahnenberg-Kaserne in Andernach ein. Foto: Bundeswehr/Baumann

11.11.2023
Von Michael Rudloff

Die ersten 101 Freiwilligen und der neue Geist der Inneren Führung

Das Prinzip der Inneren Führung bildet das Wertegerüst der Bundeswehr seit ihrer Gründung. In den Anfangsjahren musste es gegen Missdeutungen und Widerstände durchgesetzt werden.

Am 12. November 1955 schlug die Geburtsstunde der Bundeswehr. Symbolträchtig erhielten am Tag des 200. Geburtstags des preußischen Heeresreformers Generalleutnant Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755-1813) die ersten Freiwilligen ihre Ernennungsurkunden zum Dienst in den Streitkräften der Bundesrepublik Deutschland. Passend zum historischen Anlass hat die Bundeswehr 2023 ein neues Handbuch der Inneren Führung veröffentlicht.

Der Begriff der Inneren Führung und das ihm zugrunde liegende Prinzip ist älter als die Bundeswehr. Anfang Oktober 1950 berieten im Kloster Himmerod ehemalige Offiziere der Wehrmacht im Auftrag des Bundeskanzlers Adenauer über die künftige Gestalt deutscher Streitkräfte als „Kontingent im europäisch-atlantischen Verteidigungsrahmen“. Als „Rechengrößen“ für einen westdeutschen Beitrag zur Verteidigung Westeuropas schlugen die Autoren die Aufstellung von zwölf Heeresdivisionen, starken Jagdfliegerkräften, eine Marine und eine Gesamtstärke von 500.000 Soldaten vor. Die in der Eifel in klösterlicher Abgeschiedenheit erarbeitete „Himmeroder Denkschrift“ ging vor allem wegen ihrer über die technischen Details hinausweisenden Leitgedanken als „Magna Charta“ der späteren Bundeswehr in die Geschichte ein.

Zwischen Tradition und Neubeginn: Die Himmeroder Denkschrift

Im Nebeneinander demokratischer Postulate und einschränkender Formulierungen zeigte sich der Kompromiss so unterschiedlicher Offiziere wie General a.D. Hermann Foertsch und Major a.D. Wolf Graf von Baudissin. Verkörperte Foertsch vor allem das Bestreben, Altbewährtes in die neue Zeit hinüberzutragen, drängte von Baudissin auf eine grundlegende Neugestaltung einer Armee in der Demokratie.

Über Zeitgebundenes und traditionelles Denken weisen besonders sechs der 52 Seiten hinaus, die grundlegende Gedanken zum „Inneren Gefüge“ einer neuen deutschen Armee enthalten und ihre Einbindung in die demokratische Gesellschaft bestimmen. Die zu schaffende Streitmacht wird darin deutlich von ihren Vorgängern abgegrenzt und bewusst der Begriff einer „neuen Wehrmacht“ vermieden. Die Voraussetzungen für den Neuaufbau der neuen deutschen Truppe seien von denen der Vergangenheit so verschieden, „dass ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht … grundlegend Neues zu schaffen ist.“ (Hervorhebung im Original)

Kein Staat im Staate mehr

Das deutsche Kontingent müsse aus Gründen der „inneren Festigung“ überparteilich sein. Anders als in der Vergangenheit dürfe es jedoch keinen „Staat im Staate“ bilden. Im Gegensatz zur Reichswehr der Weimarer Republik während der Ära Seeckt mit dem Leitbild des „unpolitischen Soldaten“ habe „das Ganze wie der Einzelne … aus innerer Überzeugung die demokratische Staats- und Lebensform zu bejahen.“

Die Autoren der Himmeroder Denkschrift sahen den Soldaten eines künftigen Deutschen Kontingents in der Pflicht, gleichermaßen Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit zu verteidigen. „Die Verpflichtung Europa gegenüber, in dem diese Ideale entstanden sind und fortwirken sollen“ überdecke alle traditionellen nationalen Bindungen. „Gesunde Vaterlandsliebe“ schließe das Wissen ein, dass „sie mit den Idealen und Gütern Europas auch die Heimat und Familie verteidigt“. Deshalb sei der Erziehung des Soldaten im politischen und ethischen Sinne im Rahmen des allgemeinen Dienstunterrichts von vorneherein größte Beachtung zu schenken. Völkerrechtsfragen seien in diesen Unterricht einzubeziehen. „Durch die Schaffung eines europäischen Geschichtsbildes und Einführung in die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit kann von der Truppe aus über den Rahmen des Wehrdienstes hinaus ein entscheidender Beitrag für die Entwicklung zum überzeugten Staatsbürger und europäischen Soldaten geleistet werden.“

Der Wahrnehmung politischer Grundrechte durch die Soldaten standen in der Denkschrift deutliche Einschränkungen gegenüber. Im Vergleich zum Wehrgesetz von 1921 waren diese allerdings weniger restriktiv. Soldaten sollte bei Bundeswahlen erlaubt werden, das aktive Wahlrecht in Anspruch zu nehmen – die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts blieb hingegen „besonderen Fällen“ vorbehalten. Die Annahme eines Mandats verlange das Ausscheiden aus dem Dienst. Die Mitgliedschaft in Parteien und Gewerkschaften habe während der aktiven Dienstzeit zu ruhen. Ein Koalitionsrecht für Soldaten sah die Denkschrift nicht vor.

„Recht und die Pflicht zu Ungehorsam“ wurde angesichts der historischen Erfahrungen zugestanden, wenn für den Untergebenen „klar und eindeutig“ (Hervorhebung im Original) zu erkennen sei, dass der Befehl ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Völkerreicht oder sonstige militärische und bürgerliche Rechtssätze beabsichtigt“.

Vom „Gefüge“ zur „Führung“

Die politische Profilierung der Aussagen zum „Inneren Gefüge“ waren erst nach dem Ultimatum von Baudissins, das Dokument anderenfalls nicht zu unterzeichnen, in das Protokoll aufgenommen worden. In Abgrenzung zu dem bereits in der Wehrmacht verwendeten Begriff des „Inneren Gefüges“, der mitunter spöttisch als „Inneres Gewürge“ verballhornt wurde, prägten die Reformer um Graf von Baudissin und Johann Adolf von Kielmannsegg den Begriff der „Inneren Führung“, der sich nicht lediglich auf eine Zustandsbeschreibung beschränkte, sondern das Gestaltungsprinzip einer neuen Armee in der Demokratie zum Ausdruck brachte. In deren Zentrum rückte der moderne Soldat. Bereits 1951 sprach Baudissin vom „freien waffentragenden Staatsbürger“ und wenige Monate später in einer Ausarbeitung für den späteren Verteidigungsminister Franz Josef Strauß erstmals nachweisbar vom „Staatsbürger in Uniform“. Als „Urheber“ dieses Begriffs gilt der damalige wehrpolitische Berater der SPD und spätere Brigadegeneral Friedrich Beermann.

Vor nunmehr 70 Jahren, 1953, übernahm das Amt Blank, die Vorgängerinstitution des Bundesministeriums der Verteidigung, offiziell den Begriff der „Inneren Führung“, der zu einem „Markenzeichen“ der Bundeswehr werden sollte.  Der „Bevollmächtigte des Bundeskanzlers für mit der Vermehrung der Alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“, Theodor Blank, erklärte zum Ziel aller „Arbeiten auf dem Gebiet Innere Führung“, „den Typ des modernen Soldaten zu schaffen und fortzubilden, der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich ist“.

Gute Menschenführung schließt kriegsnahe Ausbildung ein

Traditionell geprägten Soldaten blieb die auf dem Prinzip der „Inneren Führung“ und des „Staatsbürgers in Uniform“ beruhende Führungsphilosophie der Bundeswehr lange Zeit fremd. In öffentlich geführten Debatten wurde bis in die siebziger Jahre gegen die vermeintliche „weiche Welle“ polemisiert, welche in der Truppe auf Abwehr stoße. Auf entsprechende Vorbehalte traf auch die 1956 erfolgte Gründung des Deutschen BundeswehrVerbands durch Soldaten, die damit ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in Anspruch nahmen. Traditionalistische Kritiker erblickten darin einen „Dammbruch“, durch den „die entscheidende Voraussetzung für einen freiwilligen Gehorsam, das Vertrauen der Untergebenen zu ihren Vorgesetzten“ untergraben werde.

Gegen das verbreitete Missverständnis einer „Führung mit Samthandschuhen“ wandte sich Oberst Graf von Baudissin 1957 in der Septemberausgabe der „Bundeswehr“. Polemischen Angriffen entgegnete er, dass militärische Schlagkraft, soldatische Professionalität und die Wahrnehmung demokratischer Verantwortung keineswegs einander ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen. Die Notwendigkeit der Inneren Führung erwachse aus den Erfordernissen einer technisierten, industrialisierten Gesellschaft. Diese werde nicht nur mit militärischen, sondern mit politischen, wirtschaftlichen und geistigen Waffen geführt. Deshalb sei die Schlagkraft einer Armee nicht mit den Maßstäben früherer Zeiten zu messen. Sie erfordere den disziplinierten Spezialisten und Einzelkämpfer, der imstande und bereit ist, im Gefecht selbständig zu handeln. Die Methoden des Kasernenhofs behielten unter anderem beim Waffendrill ihre Funktion – allein genügten sie nicht den Anforderungen an die Soldaten.

Unter den Bedingungen der Systemauseinandersetzung sei der Krieg nicht nur ein Waffengang, sondern zugleich „ein Krieg der politischen Ideen und Schlagworte, der Propaganda und psychologischen Kampfführung“. Diese Herausforderung erfordere einen Soldaten, der über einen festen geistigen Standort verfügt und weiß, wofür und wogegen er kämpft. Als „Staatsbürger in Uniform“ müsse er „eine klare und mit Kenntnissen begründete Überzeugung vom Werte seines Staates haben“ und sich dadurch vom „nur funktionierenden Waffenhanderker“ aus früheren Zeiten und dem „ideologisch fanatisierten Polit-Soldaten“ totalitärer Staaten unterscheiden.  Gute Menschenführung setze den freien Menschen voraus, für den „verteidigungswert ist, was lebenswert ist.“ Ebenso verlange sie, die Beschwernisse kriegsnaher Ausbildung zu bejahen.

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